Positionspapier: Assyrer:innen in den Friedensverträgen nach Ende des Ersten Weltkrieges

Die Pariser Friedenskonferenz (1919), der Vertrag von Sèvres (1920) und von Lausanne (1923) regelten die Friedensbedingungen und die Weltordnung nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. Sie sind damit bedeutende Dokumente in der Geschichte, die über das Schicksal vieler Nationen in Europa, Asien und Afrika entschieden. Diese Friedensverträge wirkten sich auch grundlegend auf die Zukunft der Assyrer:innen aus,wobei diese versuchten, sie aktiv und selbstbestimmt mitzugestalten. Das assyrische Volk entsandte Delegationen zur Teilnahme an diesen Verhandlungen unter anderem zur Neuordnung des „Nahen Ostens“, um eigene Forderungen zu formulieren und vertreten zu können; ein wichtiger politischer Schritt, um das Überleben des gesamten Volkes zu sichern – insbesondere nach dem durch das osmanische Reich und alliierte kurdische Stämme begangenen Völkermord an den Christ:innen (Sayfo 1914-1918). 

Die Startvoraussetzungen standen jedoch schon zu Ungunsten der Assyrer:innen, da den Delegierten die Teilnahme bewusst erschwert wurde. Beispielsweise wurde im Prozess des Pariser Friedensvertrages durch Großbritannien nur eine bedingte Reisegenehmigung erteilt, wodurch sich die Ankunft der Delegation um Monate verspätete und eine Teilnahme vereitelte. Zudem richteten sich die Verhandlungspositionen der Siegermächte Frankreich und Großbritannien strikt nach wirtschaftlichen Interessen; so spielten beispielweise die Ölfelder des Vilayet Mossul eine zentrale Rolle.

Während der Verhandlungen in Lausanne (1923), forderte die Türkei eine erneute Überprüfung von zuvor getroffenen Vereinbarungen im Vertrag von Sèvres (1920), in dem unter anderem die Assyrer:innen und andere Volksgruppen Anatoliens als eine geschützte Minderheit anerkannt wurden. Mit der Übernahme Mustafa Kemal Atatürks und gestärkt durch den Sieg im Krieg gegen Griechenland, wurde der Vertrag von Sèvres obsolet. Atatürk erklärte die Nationenbildung und Homogenisierung der Bevölkerung zu einem der wichtigsten Ziele, wodurch das Gegenteil eines Vielvölkerstaates angestrebt wurde.

In der Konsequenz werden Assyrer:innen in der Türkei bis zum heutigen Tag nicht als Minderheit, geschweige denn als die indigene Bevölkerung Südost-Anatoliens anerkannt. Selbst in den demokratischen Nationen des Westens werden sie bis heute lediglich als eine christliche Minderheit bezeichnet, womit ihnen die Anerkennung als eigenständiges und indigenes Volk Mesopotamiens verwehrt wird.

Diese Entwicklungen und ihre Ergebnisse in Form der Friedensverträge nach dem ersten Weltkrieg haben einige negative Konsequenzen für das assyrische Volk, welche wir weitergehend ausführen möchten.  Im Anschluss werden wir Stellung beziehen und daraus resultierende Forderungen für die Assyrer:innen formulieren.

Folgen der Verträge

Die nach dem Ersten Weltkrieg unterzeichneten Friedensverträge führten dazu, dass teilweise willkürliche Landesgrenzen ohne Rücksichtnahme auf ethnische, religiöse oder kulturelle Identitäten der Bevölkerung gezogen wurden. Infolgedessen wurde das assyrische Volk auf mehrere Länder verteilt, in denen es jeweils sowohl aus ethnischer als auch religiöser Sicht eine Minderheit darstellte. Die Mehrheitsgesellschaft der jeweiligen Länder und Region, in der die Assyrer:innen lebten, diskriminierte und unterdrückte das assyrische Volk und drängte es immer mehr zur Flucht oder in die Assimilation. So wurde unter anderem den in der Türkei lebenden Assyrer:innen ein türkischer Nachname per Gesetz aufgezwungen[5]und antike assyrische Städte und Dörfer erhielten ebenfalls neue türkische Namen, welche bei den Assyrer:innen noch allgegenwärtig sind.

Die abgeschlossenen Friedensverträge hatten zudem zahlreiche, weitere indirekte Konsequenzen für das assyrische Volk, vor allem in den eigenen Heimatländern:

  • Verschlechterung der Lebensumstände und künstliche Verkleinerung des Lebensraums,
  • Fortlaufende Diskriminierung und Unterdrückung aufgrund von Ethnie und Religion,
  • Hineingeraten zwischen die Fronten von Konfliktparteien (z.B. Türkei/PKK-Konflikt),
  • Gesellschaftliche Benachteiligung und wenig bis kaum politisches Mitspracherecht,
  • Zerstörung und Enteignung der kulturellen Güter, Denkmäler und Ländereien,
  • Verbot der Auslebung und Unterrichtung der Sprache: Verlust der eigenen Sprache, nationaler Identität und Kultur,
  • Geschichtsfälschung durch die Regierungen, insbesondere in Schulbüchern,
  • Wiederkehrende Wellen von Genoziden, Verfolgung und etlichen Massakern bis zum heutigen Tag, wie jüngst durch den Islamischen Staat (IS),
  • Wellen des Exodus in alle Welt und bis heute anhaltende Assimilation.

Die Hoffnungen der Assyrer:innen auf politische Partizipation, Selbstbestimmung und das Emanzipationsrecht bei den Friedensverträgen nach Ende des ersten Weltkrieges, wurden, mit dramatischen Konsequenzen bis heute, zerschlagen. Die fortlaufende Unterdrückung und Verfolgung von Assyrer:innen in ihrer Heimat gefährdet den Fortbestand dieses jahrtausendealten Volkes. Infolgedessen steht heute eine indigene Bevölkerung, die ohnehin bereits größtenteils in der Diaspora lebt, vor der unausweichlichen Dezimierung und Assimilation – sowohl in den Heimatregionen als auch in der Diaspora.

Stellungnahme des AJM

Das Leitprinzip einer tatsächlich funktionierenden Wertegemeinschaft setzt sich unserer Auffassung nach aus Anerkennung, Wissen, Gleichberechtigung, Respekt, Dialog, einer wahrhaften Chancengleichheit sowie Gleichbehandlung zusammen.
Viele assyrische Verbände und Organisationen – wie auch der AJM – haben bereits in der Vergangenheit versucht, auf die Verträge von Versailles, Sèvres und Lausanne und die damit einhergehenden Folgen aufmerksam zu machen. Diese gehören zu den wohl einschneidendsten Ereignissen, die unsere sozialen Strukturen, Identität sowie Lebensweise aufs schwerste unwiderruflich geprägt und verändert haben.
Eine gründliche Auseinandersetzung und zielführende Aufarbeitung dieser Verträge und ihrer Folgen sind deshalb dringend erforderlich.
Hieraus leiten wir folgende Forderungen an die Politik und insbesondere an die amtierenden Regierungen Deutschlands, Österreichs, der Schweiz und an die Europäischen Union ab:

Forderungen des AJM

  • Zum 100-jährigen Bestehen des Lausanner Vertrags, fordern wir eine Auseinandersetzung mit der Historie und eine politische neutrale Aufarbeitung des Vertrags. Es müssen wichtige und bisher nicht berücksichtigte Aspekte, die Minderheiten betreffen, thematisiert werden, welche bis heute weitreichende Folgen nach sich ziehen. Insbesondere fordern wir die Einhaltung und Umsetzung der Minderheitenrechte für die Assyrer:innen ein, die ihnen im Vertrag von Sèvres (Art. 62) zugesichert, aber durch den Lausanner Vertrag außer Acht gelassen wurden.
  • Wir fordern eine intensive Aufarbeitung und die Anerkennung des assyrischen Genozids (2016 vom deutschen Bundestag erfolgt, nicht von der Bundesregierung) bei dem auch Deutschland eine Schlüsselrolle gespielt hat.
  • Die Aufklärung dieser geschichtlichen Ereignisse sollten auch in den Lehrplänen mit einfließen.
  • Wir fordern eine korrekte Darstellung der Assyrer:innen als eigenständige und indigene Volksgruppe Mesopotamiens in der Politik und den Medien.
  • Wir fordern ein Autonomiegebiet im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts der Assyrer:innen ein, welches durch die Vereinten Nationen gesichert werden soll. Dies ist die einzige Möglichkeit, das Fortbestehen des assyrischen Volkes zu sichern.

Die Forderung nach einem Autonomiegebiet wird auf das völkerrechtlich anerkannte Selbst-bestimmungsrecht der Völker gestützt. So heißt es in dem „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“, der am 19. Dezember 1966 von der UN-Generalversammlung verabschiedet wurde, in Artikel 1:

(1) Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

(2) Alle Völker können für ihre eigenen Zwecke frei über ihre natürlichen Reichtümer und Mittel verfügen, unbeschadet aller Verpflichtungen, die aus der internationalen wirtschaftlichen Zusammenarbeit auf der Grundlage des gegenseitigen Wohles sowie aus dem Völkerrecht erwachsen. In keinem Fall darf ein Volk seiner eigenen Existenzmittel beraubt werden.

(3) Die Vertragsstaaten, einschließlich der Staaten, die für die Verwaltung von Gebieten ohne Selbstregierung und von Treuhand gebieten verantwortlich sind, haben entsprechend den Bestimmungen der Charta der Vereinten Nationen die Verwirklichung des Rechts auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.

Dieses Recht wurde insbesondere mit der Verabschiedung der UN-Deklaration über die Rechte indigener Völker durch die UN-Generalversammlung am 13. September 2007 zugunsten dieser legitimiert und gestärkt. Dort heißt es:

Artikel 3:

Indigene Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung.

Artikel 26:

(1)  Indigene Völker haben das Recht auf das Land, die Gebiete und die Ressourcen, die sie traditionell besessen, innegehabt oder auf andere Weise genutzt oder erworben haben.

(2) Indigene Völker haben das Recht, das Land, die Gebiete und die Ressourcen, die sie besitzen, weil sie ihnen traditionell gehören oder sie sie auf sonstige Weise traditionell innehaben oder nutzen, sowie die, die sie auf andere Weise erworben haben, zu besitzen, zu nutzen, zu erschließen und darüber zu verfügen.

(3) Die Staaten gewähren diesem Land und diesen Gebieten und Ressourcen rechtliche Anerkennung und rechtlichen Schutz. Diese Anerkennung erfolgt unter gebührender Achtung der Bräuche, Traditionen und Grundbesitzsysteme der betroffenen indigenen Völker.

Dies legitimiert unsere Forderung eindrücklich. Insbesondere vor dem Hintergrund der realpolitischen Situation der Assyrer:innen in ihren Heimatländern, die durch Vertreibung, religiöse und ethnische Verfolgung, Landraub und politische sowie soziale Diskriminierung und Unterdrückung gekennzeichnet ist, erscheint diese Lösung als unausweichlich.