Die transgenerationale Traumatisierung in Familien von Sayfo-Überlebenden

Forschungsarbeit (deutscher Titel): Erforschung des Sayfo innerhalb drei Generationen einer assyrischen/aramäischen Familie Überlebender: Eine Familiensystem Perspektive zum Verständnis der transgenerationalen Weitergabe von Emotionen, Werten und Überzeugungen (Yonan, 2019)

“Die Knochen unserer Großeltern sind alle verstreut auf diesen Bergen, sie alle haben ihr Blut auf diesen Steinen vergossen. Sie müssen auf ewig in unseren Leben bleiben, in unseren Erinnerungen. Wir müssen dies unseren Kindern, den Kindern unserer Kinder lehren; unsere Kultur und unseren Glauben.“

– Vater, Großvater und Sayfo-Überlebender der dritten Generation

Nach über 100 Jahren Verleugnung des Völkermordes an den Assyrer*innen, Armenier*innen und Pontosgriech*innen durch erst das damalige Osmanische Reich und nun dem Nachfolgestaat der Türkei, liegt vor allem der Völkermord am assyrischen Volk im Schatten des 1. Weltkrieges, aber auch des Völkermords an den Armenier*innen, der zeitgleich im damaligen Osmanischen Reich stattfand. So wie der Sayfo politisch und in der Öffentlichkeit weitestgehend vergessen ist, spiegelt sich dies auch in der Forschung wider.

Innerhalb des aktuellen Sayfo-Positionspapiers des AJM haben wir, neben der demographischen und sozio-politischen Konsequenzen, auch die Ebene der psychologischen Nachwirkungen beschrieben:

„Eine weitreichende Konsequenz der psychologischen Nachwirkungen ist die transgenerationale Traumatisierung von Überlebenden, welche vor allem durch Weitergabe von Angst und Misstrauen an die nachfolgenden Generationen gekennzeichnet ist. Deswegen führte der Sayfo zu einem kollektiven kulturellen Trauma, das bis in die Gegenwart anhält.

Dieses historische Trauma und die daraus bedingten schicksalhaften Folgeerscheinungen, wie die erzwungene Homogenisierung der Jungtürken vor über hundert Jahren, die Zerstörung religiöser und kultureller Stätten sowie der Brandmarkung durch den Genozid, haben sich tief bis heute in die Identität der Assyrer*innen eingebrannt.“

(Ausschnitt aus dem AJM Positionspapier Sayfo, S.3)

Während einige Akademiker*innen in ihren Arbeiten den Sayfo zum Teil auf einer historischen Ebene aufgearbeitet haben, ist die psychologische Aufarbeitung noch in ihren Anfängen. In diesem Artikel möchten wir das Thema der transgenerationalen Traumatisierung innerhalb von Familien von Sayfo-Überlebenden und somit die psychologische Perspektive näher beleuchten.

Trauma und transgenerationale Traumatisierung

Die Übertragung von Trauma ist der Prozess, in dem ein Ereignis, das von einer Person erlebt wird, so genannte „Schatteneffekte“ auf eine andere Person hat. Der Unterschied zwischen einem direkten Trauma und einem generationsübergreifenden Trauma ist, dass die Nachkommen keine wirklichen Erinnerungen an die extremen Ereignisse haben. Dies beinhaltet die so genannte „Post-Memory“, also einen generationsübergreifenden Akt der Gedächtnisübertragung. So überträgt eine Generation unbewusst die Erfahrungen, die sie nicht bewältigen konnte, an ihre Nachkommen.

Ein Völkermord wie der Sayfo wird auch als Massentrauma bezeichnet, d.h. ein Trauma, welches eines oder mehrere potenziell lebensbedrohlicher Ereignisse beinhaltet, und das von einer enormen Anzahl von Menschen gleichzeitig durchlebt wird.

Die Traumatisierung von Sayfo-Überlebenden und ihren Nachfahren

Es gibt viele verschiedene Erklärungsansätze von unterschiedlichen Strömungen der Psychologie über die transgenerationale Transmission, also die Weitergabe von Traumata über Generationen hinweg. Wichtig ist dabei das Sayfo-Trauma aus einer Familiensystemperspektive zu verstehen, da die Erfahrungen meistens innerhalb der Familie weitergegeben wurden und auf diese Weise Auswirkungen auf Beziehungen, Kommunikation und die Familiendynamik hatten bzw. bis heute noch haben. Beim Sayfo ist die erste Generation, die den Sayfo direkt miterlebt hat, mittlerweile verstorben und die zweite Generation, welche die Geschichten noch aus erster Hand erfahren hat, bereits in einem hohen Alter. Dadurch hat die Relevanz darüber zu forschen einen sehr großen zeitlichen Faktor.

Die Familie wird innerhalb der Familiensystemtheorie nach Bowen (1978) als kohäsives emotionales System gesehen, in der alle Familienmitglieder emotional miteinander verbunden und voneinander abhängig sind – nur der Grad der Abhängigkeit und der Individualisierung unterscheidet sich dabei stark. Die Verhaltensmuster, die im Familiensystem entstehen, können sowohl in eine Balance als auch in eine Dysfunktion im System resultieren.

Inhalte der Forschungsarbeit

In der Arbeit lag der Fokus vor allem auf die Konzepte innerhalb der Familiensystemtheorie, die ebenfalls mit Trauma und der Weitergabe von Trauma verbunden sind. Dazu gehören:

  • Die Differenzierung des Selbst bzw. des Ichs, welches durch das Wechselspiel zwischen der Zusammengehörigkeit zur Familie und der eigenen Individualität entsteht.
  • Das Konzept der „anxiety“, welche Angst und ungelöste emotionale Bindungen beinhaltet. So wird innerhalb der Theorie davon ausgegangen, dass wenn der natürliche Prozess der Individuation (Selbstwerdung) durch ein traumatisches Ereignis gehemmt wird, es zu einer erhöhten Abhängigkeit innerhalb der Familie kommen kann.
  • Wichtig ist es außerdem dabei die multigenerationalen Transmissionsprozesse, also die Weitergabe über mehrere Generationen hinweg, zu berücksichtigen.

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Im Rahmen der Studie wurden drei Generationen einer assyrischen Familie von Sayfo-Überlebenden interviewt und folgende Forschungsfragen untersucht:

  1. Auf welche Art und Weise ist der Sayfo noch immer präsent im Leben und Erleben der Familie, insbesondere in Bezug auf die eigenen Interpretationen von Lebenserfahrungen und Sinn bzw. Bedeutung heute und in früheren Lebensabschnitten.
  2. Inwiefern gibt es auf Grundlage der persönlichen Erzählungen eine transgenerationale Weitergabe von Emotionen, Werten und Überzeugungen zusammenhängend mit dem Sayfo innerhalb der Familie.

Mithilfe der Studie konnten einige Nachwirkungen, die bereits in vorherigen Sayfo-Studien gefunden wurden, nochmals bestätigt werden und Ergebnisse von Studien mit Nachfahren von Holocaust Überlebenden ebenfalls in assyrischen Folgegenerationen nachgewiesen werden. Im Folgenden ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Forschungsarbeit und der daraus resultierenden Schlussfolgerungen.

Ergebnisse und Schlussfolgerungen:

Die Ergebnisse der Studie legen nahe, dass der Sayfo als kulturelles Trauma von den Nachfahren empfunden wird. Dies bedeutet, dass die Familienmitglieder, die sowohl Teil des Kollektivs der Familie als auch der assyrischen Volksgruppe sind, das Gefühl haben, dass sie einem schrecklichen Ereignis ausgesetzt wurden, welches ihr Bewusstsein als Gruppe unwiderruflich geprägt hat. Das kulturelle Trauma beinhaltet u.a. den kulturellen Genozid, Verlusterfahrungen, religiöse Verfolgung sowie Diskriminierung und insbesondere die Brandmarkung des Sayfo in die ethnische und kulturelle Identität der Überlebenden.

Es konnte außerdem, wie in Cetrez (2017), die transgenerationale Weitergabe von Angst und Misstrauen im Zusammenhang mit dem Sayfo nachgewiesen werden. So kann sich z.B. eine langanhaltende Angst, verbunden mit dem Sayfo, zusammen mit einem erhöhten Identitätsbewusstsein und dem Verantwortungsgefühl dem Sayfo-Erbe gerecht werden zu müssen, in ein generalisiertes Misstrauen gegenüber von Muslime als Verkörperung der Tätergruppe entwickeln. Des Weiteren wurde beobachtet, dass die Weitergabe von negativen Emotionen zu Problemen in der Entwicklung einer sicheren Eltern-Kind Bindung führen kann. Dies spiegelte sich in der Studie beispielsweise in der Schwierigkeit der Eltern offen Liebe und Zuneigung ihren Kinder gegenüber zu äußern oder einer Überfürsorglichkeit und Abhängigkeit in der Beziehung.

In den Interviews konnten auch Themen wie Wut und Schuld entdeckt werden. Die Wut bezog sich dabei nicht nur auf die Täter, sondern in den jüngeren Generationen ebenfalls auf die Teile ihrer Volksgruppe, die sich aufgrund ihres christlichen Glaubens nicht selbstverteidigt haben. Gleichzeitig änderte dies jedoch interessanterweise nicht die Einstellung gegenüber dem Christentum, auch jüngere Generationen erhalten den christlichen Glauben größtenteils aufrecht. Außerdem wurde eine Veränderung in den Inhalten der Schuld-Thematik festgestellt. So konnte in den älteren Generationen ein Überlebenden-Syndrom (survivor’s guilt) gefunden werden, d.h. das Empfinden von Schuld, eine lebensbedrohliche Situation überlebt zu haben, während andere dies nicht taten. Im Gegensatz dazu äußerten jüngere Generationen Schuldempfinden nicht genug zu tun, um die empfundenen Erwartungen, ihr kulturelles Erbe und das Gedenken an den Sayfo aufrechtzuerhalten, gerecht zu werden.

Gleichzeitig deuten die Ergebnisse daraufhin, dass das Leiden innerhalb Familien von Sayfo-Überlebenden, durch Bemühungen einen Sinn und Bedeutung im Sayfo wiederzufinden, ausgeglichen werden kann. Besonders interessant war in dem Kontext, dass auch die Weitergabe von positiven Faktoren nachgewiesen werden konnte. Dies beinhaltet innerhalb der Familie:

  • ein erhöhtes Zusammengehörigkeitsgefühl;
  • das Verantwortungsgefühl das Andenken des Sayfo, die Kultur und Religion aufrechtzuerhalten;
  • weitere proaktive Haltungen, insbesondere in der 3. Generation von Sayfo-Überlebenden: Dankbarkeit, Stolz und Resilienz (Widerstandsfähigkeit)

Dabei wurde die Art und Weise der Kommunikation innerhalb der Familie als wesentlicher Faktor in der Weitergabe von Emotionen, Werten und Überzeugungen verbunden mit dem Sayfo identifiziert, welcher möglicherweise zu einem multigenerationalen Transmissionsprozess geführt hat. So konnte das Schweigen über den Sayfo innerhalb der Familie mit der Weitergabe von unbewältigten Emotionen wie traumatischer Trauer in Verbindung gebracht werden.

Fazit: Was bedeutet das für uns?

Während bereits über 100 Jahre seit dem Sayfo und den verbundenen Gräueltaten vergangen sind, legt die präsentierte Studie nahe, dass nachfolgende Generationen von assyrischen Überlebenden noch immer die Bedeutung des Sayfo und seinen Nachwirkungen als einen wichtigen und einflussreichen Faktor in ihrem Leben sehen. Neben den traumatischen Faktoren und ihren Konsequenzen, bieten die Ergebnisse aber auch Hoffnung, dass gerade die jüngeren Generationen durch die Geschichten ihrer Vorfahren zusätzlich positive Werte wie Dankbarkeit und Stolz entwickelt haben. Diese helfen ihnen, ungelöste emotionale Konflikte ihrer Eltern und Großeltern besser zu verarbeiten. Während die dritte Generation weiterhin die Erinnerungen ihrer Vorfahren aufrechterhält, gestaltet sie das Sayfo-Erbe durch Resilienz, Stärke und der Bedeutung, die den Erfahrungen ihrer Familie zugeteilt wird. Auch vorherige Studien mit Menschen, die traumatische Lebenssituationen durchlebt haben, konnten zeigen, dass neben psychischen Erkrankungen wie posttraumatischen Belastungsstörungen auch positive psychologische Veränderungen verzeichnet werden können. Dies wird in der Fachliteratur als posttraumatisches Wachstum bezeichnet und beinhaltet z.B. Veränderungen wie eine erhöhte Belastbarkeit und Widerstandsfähigkeit, eine stärkere Orientierung zu zwischenmenschlichen Beziehungen oder prosoziales Verhalten.

Über 100 Jahre nach dem Sayfo scheint die Opferrolle der Assyrer*innen noch immer ein Fokus in der kollektiven Wahrnehmung und Verarbeitung des Genozids zu sein. Zukünftige Forschungen sollten sich jedoch ebenfalls auf die positiven Faktoren fokussieren, die verbunden mit dem Sayfo innerhalb assyrischer Familien weitergegeben werden. Auch auf gesellschaftlicher Ebene sollten wir als Volksgruppe nicht die Weiterführung einer ausschließlichen Opfermentalität verstärken, die zu einer kollektiven Selbstwertminderung des assyrischen Volkes auf verschiedenen Ebenen geführt hat. Denn Studien wie diese bezeugen, dass das Sayfo-Vermächtnis weitaus mehr als das ist. So lässt sich vermuten, dass wir als Volksgruppe ebenfalls ein posttraumatisches Wachstum über die Generationen hinweg erfahren haben. Dies spiegelt sich in der Widerstandsfähigkeit der Assyrer*innen nach Jahrhunderten von Unterdrückung und Verfolgung, dem Stolz sein kulturelles Erbe trotz der Umstände zu großen Teilen aufrechterhalten zu haben sowie in der Dankbarkeit und Anerkennung die Möglichkeit zu haben eine bessere und positivere Zukunft aufzubauen.

Autorin: Ninwa Yonan


Quellen

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