Positionspapier: Wer sind die Assyrerinnen und Assyrer? – Eine Reflexion des AJM

Die modernen Assyrerinnen sind die indigene Bevölkerung des Zweistromlandes Mesopotamien, das im Gedächtnis der Menschen als „Wiege der Zivilisation“ verankert ist. Ihre ursprünglichen Siedlungsgebiete erstrecken sich über mehrere Staatsgrenzen hinweg, die erst im 20. Jahrhundert gegründet wurden, darunter fallen die Türkei, Syrien, der Irak und der Iran. Sie verstehen sich als Nachfahrinnen von u.a. der antiken Völker der Sumerer, der Akkader, der Babylonier und der Aramäer.

Die Assyrer*innen konnten nach dem Zusammenbruch ihrer großen Reiche weitere Nachfolgerstaaten errichten, die fortan in Abhängigkeit zu anderen Reichen standen: „Athura“ war eine achämenidische Provinz, „Asurestan“ eine sassanidische Provinz, „Osrhone“ und „Adiabene“ waren römische Klientelstaaten, die dann zu großen Provinzen namens „Mesoptamia“ und „Assyria“ zusammengefasst wurden. All dies zeigt die historische Kontinuität des assyrischen Volkes innerhalb dieser Region.

Im 19. Jahrhundert bekamen all diese Aspekte einen neuen Impuls, da das Nationalbewusstsein unter den Völkergemeinschaften weltweit erwachte. Die verbindenden Elemente waren dabei Geografie, Kultur und Sprache, um sich als Volksgruppe zu verstehen. Auf Grundlage dieser Idee ist ebenfalls ein nationales Verständnis unter den Assyrer*innen aufgekommen. Denn ihre Jahrtausende alte Selbstbezeichnung „Suroyo/Suraya“ hatte im Laufe der Christianisierung einen Bedeutungswandel erfahren. Der Begriff verschmolz nach der Christianisierung mit ihrer religiösen Identität, sodass „Suroyo/Suraya“ für viele Jahrhunderte „Christ“ bedeutete und im 19. Jahrhundert neu interpretiert wurde. Im Zuge dieser Nationalbewegung, wurden die antiken Völker Mesopotamiens und das historische Siedlungsgebiet Assyrien elementare Konstanten des assyrischen Selbstverständnisses.

Neben dem Begriff „Assyrer“, sind unter anderem auch die Volksbezeichnungen „Aramäer“ und „Chaldäer“ im deutschsprachigen Raum geläufig, bezeichnen dieselbe Volksgruppe und sind als Synonyme zu verstehen. In der deutschsprachigen Literatur wurde oftmals auch der Begriff „Syrer“ oder „syrischsprachige Christen“ in Anlehnung an „Suryoyo“ und „Surayt“ benutzt. Im akademischen Milieu wird die Sprache der Assyrer*innen der aramäischen Sprachfamilie zugeordnet. Im Englischen sind auch die Begriffe „Syriac“, „Assyrian Neo-Aramaic“ bzw. „Modern Assyrian“ geläufig.

Die aus dem Tur Abdin, einem Gebiet im Südosten der Türkei, stammenden Assyrer*innen sprechen einen „Westdialekt“ der Sprache, den sie „Surayt“ nennen. Die aus dem Irak, dem Iran oder aus der Region Khabur in Syrien stammenden Assyrer*innen sprechen meist den „Ostdialekt“ und nennen diesen „Surit(h)“. Es gibt vereinzelte Heimatregionen, wie beispielsweise Mossul, Mardin und Azekh (Idil), in denen die Sprache aufgrund von historischen Ereignissen komplett oder teilweise durch eine eigene Mundart eines arabischen Dialekts ersetzt wurde.

Nach der Annahme des christlichen Glaubens, haben die Assyrer*innen eine sehr tragische und von Unterdrückung gekennzeichnete Geschichte erleiden müssen: vielen Verfolgungen, Vertreibungen, Repressalien und anderen Diskriminierungsmaßnahmen über Jahrhunderte ausgesetzt, wurden sie ebenso wie die Armenier*innen und Pontosgriech*innen Opfer des Genozids ab dem Jahr 1914 im Osmanischen Reich. Dieser Völkermord wurde damals unter der Beteiligung des deutschen Kaiserreiches von den Jungtürken geplant und mit Unterstützung kurdischer Stämme systematisch betrieben. Über die Hälfte der assyrischen Bevölkerung kam bei diesem Völkermord um. Diese Gräueltaten haben sich bei den Assyrer*innen als Trauma unter dem Begriff „Sayfo“ in das Bewusstsein eingebrannt. Die bis dahin im Persischen und Osmanischen Reich lebenden Assyrer*innen haben vor und nach dem Ersten Weltkrieg viele Flucht- und Migrationserfahrungen machen müssen, wobei viele unter anderem in das Russische Reich, in die USA oder Frankreich ausgewandert sind.

Das Simele-Massaker im August 1933 ist nur ein weiteres von vielen Beispielen, bei dem die assyrischen Ureinwohner*innen zur Zielscheibe von systematischer Vernichtung und Vertreibung wurden. Bei den Angriffen, die unter der Führung des irakischen Militärs mit der Beteiligung kurdischer und arabischer Stämme durchgeführt wurden, starben mehr als 6.000 Assyrer*innen in Simele und weiteren über 100 assyrischen Dörfern in Nuhadra (Duhok) und Mossul.

Auch im 21. Jahrhundert ist das Leben in der Heimat von politischer Spannung und religiöser Repression geprägt. So flohen seit Beginn des Irak-Krieges im Jahr 2003 weit mehr als die Hälfte der im Irak beheimateten Assyrer*innen aus dem Land. Die Geschehnisse im syrischen Bürgerkrieg ab 2011 brachten das assyrische Volk erneut zwischen die Fronten verfeindeter Mächte. Damit einhergehend trieb das Erstarken des Islamischen Staates (IS) in Syrien und dem Irak eine neue große Fluchtwelle in die Diaspora an. Plünderungen und die Zerstörung antiker Kulturgüter tragen zur voranschreitenden Entwurzelung und einem kulturellen Genozid an den Assyrer*innen in ihrer angestammten Heimat bei.

Inzwischen leben bis zu 85 % der Bevölkerung außerhalb ihrer einstigen Heimatgebiete. In Deutschland, Österreich und der Schweiz leben mehr als 200.000 Assyrer*innen aus allen Teilen ihrer Heimatgebiete.

Die überwiegende Mehrheit der Assyrer*innen gehört heute dem Christentum an und ist größtenteils den syrisch-orthodoxen, syrisch-maronitischen, syrisch-katholischen und chaldäisch-katholischen Kirchen sowie der Kirche des Ostens und der alten Kirchen des Ostens zugehörig. Neben weiteren, im Laufe der Zeit entstanden Kirchengruppen, ist ein kleiner Teil der Assyrer*innen auch dem Judentum zugehörig. Durch die Ankunft des Islams in den assyrischen Heimatgebieten und insbesondere bedingt durch den Völkermord im Osmanischen Reich, wurden große Teile der assyrischen Bevölkerung zwangsislamisiert und verloren damit ihre religiöse, kulturelle und ethnische Identität. In den letzten Jahren finden immer mehr der zwangsislamisierten Assyrer*innen zu ihren ethnischen Wurzeln zurück.

Der Assyrische Jugendverband Mitteleuropa e.V. (AJM) erkennt die Historie des assyrischen Volkes in seiner Gänze an, sieht diese als Grundlage für das Selbstverständnis des Verbandes und orientiert sich an großen Persönlichkeiten wie Ashur Yousef (1858-1915), Naum Faiq (1868-1930),  Mor Philoxenos Yuhanon Dolabani (1885-1969), Mar Benyamin Shimun XXI. (1887-1918) und Freydun Atouraya (1891-1926).

Die Anfänge des AJM liegen in der assyrischen Kulturarbeit in Deutschland. Angefangen hat es zu Beginn der 1990er Jahre als „Assyrisches Jugendkomitee“ des Zentralverbands der Assyrischen Vereinigungen in Deutschland und Europäische Sektionen e.V. (ZAVD). Im Jahr 2002 gründete sich der Assyrische Jugendverband Mitteleuropa e.V. aus den Jugendgruppen und -vertretungen des ZAVD aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie aus individuellen und vereinslosen Aktivisten. Heute arbeitet der AJM als unabhängiger Jugendverband und ist frei in seiner Meinungsbildung. Er bekennt sich zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und zu den europäischen Grundwerten.