Interview mit Rafik Schami

© Arne Wesenberg

Rafik Schami wurde 1946 in Damaskus geboren. Schami entdeckte bereits in frühen Jahren seine Leidenschaft zum mündlichen Erzählen und Schreiben. Mit neunzehn Jahren gründete und leitete er die Wandzeitung „Al Muntalak“ (dt. Ausgangspunkt). Drei Jahre später wurde diese verboten. Um der Zensur und dem Militärdienst in Syrien zu entkommen, verließ Rafik Schami 1970 seine Heimat und ging in den Libanon. 1971 wanderte er schließlich nach Deutschland aus. Er setzt sein Chemiestudium in Heidelberg fort und schloss 1979 mit einer Promotion ab, während er nebenher in Fabriken und als Aushilfskraft in Kaufhäusern, Restaurants und Baustellen arbeitete. „Andere Märchen“ gehört zu Schamis ersten Büchern in deutscher Sprache. Seitdem erhielt Rafik Schami zahlreiche Auszeichnungen und Preise für seine Werke. Mittlerweile zählt er zu den bedeutendsten Autoren der deutschen Gegenwartsliteratur. Sein Werk ist in über 30 Sprachen übersetzt.
(Quellen: https://www.rafik-schami.de/special/rafik-schami/c-1305, https://de.wikipedia.org/wiki/Rafik_Schami)

AJM: Guten Tag Herr Schami, wir freuen uns sehr darüber, dass Sie sich bereit erklärt haben, mit uns ein schriftliches Interview zu führen. Vielen Dank dafür! Herr Schami, hätte Ihnen damals in jungen Jahren jemand gesagt, dass Sie in Deutschland ein erfolgreicher Schriftsteller werden, was würden Sie diesem Jemand antworten?

Rafik Schami: Ehrlich gesagt, ich hätte ihn gefragt, ob er betrunken wäre. Ich dachte nie daran, meine geliebte Stadt Damaskus und mein aramäisches Dorf Malula zu verlassen und ich wusste von Deutschland nichts. Ich wäre glücklich gewesen, wenn ich in meiner Gasse Erzähler hätte werden können. Aber die Diktatur und die Sippe haben mich erstickt. Ich musste das Land verlassen.

AJM: Mit Ihrer Vielzahl an verkauften Büchern begeistern Sie viele Menschen. Was meinen Sie, was ist es, was die Leser*innen an Ihren Werken so fasziniert?

Rafik Schami: Die Poesie, die Spannung und die Menge an Information über das Leben in einem nahen und doch fremden Land. Ich bin vor fünfzig Jahren hierhergekommen und in manchen Orten, in denen ich gewohnt oder gearbeitet habe, hatten die Menschen zum ersten Mal mit einem Menschen aus Syrien gesprochen – von Aramäern haben sie noch nie gehört, obwohl Jesus, den sie anbeten, Aramäisch gesprochen hat.

AJM: Was sollen Leser*innen für sich persönlich mitnehmen, nachdem sie Ihre Bücher gelesen haben?

Rafik Schami: Meine Hoffnung ist, dass sie eine Erinnerung an eine schöne Zeit mitnehmen, die sie mit meinen Geschichten verbracht haben. Dass sie durch die Geschichten den Mut fühlen, aufzustehen und für die eigene und die Würde der anderen zu kämpfen… und dass sie die Fesseln der Gleichgültigkeit zerreissen und den Blick über die Grenze des Wohlstands zu richten wagen, wo Millionen von Menschen leiden und sich über jede Solidarität freuen.

AJM: Gibt es eine bestimmte Zielgruppe, die Sie beim Schreiben erreichen möchten? Wenn ja, wieso gerade diese?

Rafik Schami: Nein, meine Geschichten können Kinder wie Erwachsene lesen und genießen und ich hörte, wie manche mehrmals zu meinen Büchern zurückkehren, wenn sie älter werden, weil sie dann die Geschichte noch einmal anders lesen. So soll Literatur sein oder sie ist keine.

AJM: Sie haben bereits in jungen Jahren in Syrien auf Arabisch geschrieben. Wie sind Sie eigentlich damals zum Schreiben gekommen?

Rafik Schami: Mich hat als Kind die Kunst des mündlichen Erzählens fasziniert. Meine Eltern besaßen ein großes Haus mit einem Innenhof. Dort saßen unsere Nachbar*innen abends und erzählten. Wir wohnten im ersten Stock und ich lag neben dem Fenster zum Hof und lauschte den Geschichten. Später habe ich mit meiner Mutter die Geschichten von 1001 Nacht im Radio Nacht für Nacht zugehört. Das hat mich verzaubert. Die Geschichten werden ja immer dort unterbrochen wo sie am spannendsten werden, und so lag ich danach im Bett und dachte nach, wie die Geschichte weitergehen könnte. Das hat mich geschult. Dann fing ich an, Geschichten mündlich zu erzählen und später, wenn sie reifer geworden waren, habe ich sie aufgeschrieben.

„Rafik Schami gibt den Menschen das kindliche Staunen über die Welt in seinen Büchern zurück.“

Leonie Berger, Südwestrundfunk(SWR)

AJM: In Deutschland haben Sie irgendwann begonnen, Bücher in deutscher Sprache zu verfassen. Wie kam es dazu, dass Sie als arabischer Schriftsteller deutsche Bücher schreiben wollten?

Rafik Schami: Es war eine Notlösung, die mir später die Welt der deutschen Sprache eröffnet – Als ich Syrien verließ, war mein Koffer zur Hälfte voll mit Kleidung und zur Hälfte mit Skripten, darunter die abgeschlossenen Romane „Eine Hand voller Sterne“ und „Erzähler der Nacht“, sowie eine große Anzahl von Kurzgeschichten, Märchen, Fabeln und Entwürfen für Romane und Theaterstücke.
Jahrelang versuchte ich einen der Romane unterzubringen, doch alle arabischen Verlage lehnten sie ab. Wohlbemerkt es sind zwei Werke, die später Welterfolg erleben sollten. Sie sind beide in 23 Sprachen übersetzt und sie sind heute nach 35 Jahren immer noch auf dem Markt erhältlich, in der 25. Auflage. Manche Antworten waren brutal. Es hieß, nur wenn ich alle Ironie und Kritik gegen das Militär und alle Erotik aus den Romanen herausziehen würde, könnte man es vielleicht veröffentlichen. Andere fragten sadistisch: „Sie sind Syrer, warum veröffentlichen Sie nicht in Syrien?“ Und das fragt man einen Exilautor! Doch die schlimmsten waren die, die nicht geantwortet haben.
So beschloss ich damals, meine Illusion zum Teufel zu jagen und auf Deutsch zu veröffentlichen, doch um Literatur auf Deutsch zu produzieren, reicht das Alltagdeutsch nicht aus. Ich lernte also das literarische Deutsch, indem ich große Werke von Thomas Mann, Heinrich Heine, Kurt Tucholsky, Anna Seghers und anderen Wort für Wort mit der Hand abschrieb und nachdachte, warum sie einen Satz so schrieben wie sie schrieben. Zwei Jahre lang habe ich täglich stundenlang abgeschrieben. Und dann wagte ich meine Geschichten zu übersetzen und von da an schrieb ich auf Deutsch. Und ich lernte, die deutsche Sprache zu lieben.

AJM: Sie selbst sind in Syrien geboren, von dort geflohen und haben begonnen in Deutschland zu studieren. Ich stelle mir diesen Übergang nicht einfach vor. Mit welchen Hürden und Herausforderungen sahen Sie sich konfrontiert und inwiefern hat Sie diese Zeit geprägt?

Rafik Schami: Die Hürden kann man nicht aufzählen, vor allem wenn man als armer mittelloser Student ankommt. Wenn man aus einer Hochkultur kommt und hier plötzlich alles von Null auf erklären muss. „Wie, Sie sind Araber und Christ? Wann wurden Sie missioniert?“ Ich lernte, ironisch darauf zu reagieren: Wir sind seit Tausenden von Jahren Christen und haben euch diese Religion kostenlos geschenkt. Große Probleme hatte ich mit der Aufenthaltserlaubnis, mit der syrischen Botschaft und mit den Rassisten, die es in jeder Gesellschaft gibt. Doch das hat mich von den Fesseln der Diktatur und der Sippe befreit. Ohne das Exil wäre ich nicht Rafik Schami geworden.

„Raik Schami schafft es, uns an die Hand zu nehmen, uns ins Ohr zu flüstern ›Und es begab sich…‹ – und siehe, wir folgen ihm…“


Fritz J. Raddatz, Die Zeit

AJM: In Ihren Büchern thematisieren Sie oft Ihre Heimat. Was bedeutet Heimat für Sie?

Rafik Schami:  Es gibt kein anderes Wort, das so einfach klingt und so schwer zu erklären ist wie Heimat. Es hängt sehr oft von der Person ab, deshalb gibt es keine Definition für alle. Bei mir spielen Kindheit und Jugend eine große Rolle und Damaskus ist damals noch eine der schönsten Städte der Welt gewesen. Dann spielen Sicherheit, Freundschaft, die eigene Familie und andere Elemente eine Rolle in der Definition der Heimat, und bei mir sind das Dinge, die ich in Deutschland seit fast fünfzig Jahre erfahre und genieße. So hört die Sehnsucht nach den Kindheitsorten zwar nicht auf, aber sie und die Liebe zu Deutschland, das mir zur Heimat wurde, koexistieren friedlich nebeneinander und machen mir jeden Nationalismus unerträglich.

AJM: Sie kommen aus dem Dorf Malula, einer christlich geprägten Ortschaft in Syrien, in der unsere Muttersprache aramäisch gesprochen wird. Inwiefern prägen Sie heute noch die Erinnerungen an Ihr Heimatdorf, in Hinblick auf Sprache, Kultur, Tradition?

Rafik Schami: Meine Eltern sind aus Malula. Ich selbst bin in Damaskus geboren und aufgewachsen, doch wir haben jedes Jahr die dreimonatigen Sommerferien in Malula verbracht und das war eine andere Welt, die mich auch mitgeprägt hat. Das Dorf hat seine Sprache, Religion und Würde immer wieder verteidigen müssen. Aramäisch ist der Ursprung vieler Sprachen und dessen Erhalt ist eine Notwendigkeit, um das Reichtum der Vielfalt der Kulturen zu erhalten: Das prägt mich und meine Arbeit auch hier in Deutschland, deshalb trete ich entschieden gegen die Rassisten, die nur Monokulturen in ihrem winzigen Hirn haben.

AJM: Was schätzen Sie an Deutschland, was vermissen Sie an Syrien und wie schaffen Sie es, Ihre kulturelle Identität mit der neu gewonnen Identität in Deutschland in Einklang zu bringen?

Rafik Schami: Ich schätze die Freiheit und Demokratie in Deutschland sehr und versuche ihrer würdig zu sein. Ich schätze die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit der Deutschen, weil das Respekt vor dem anderen bedeuten. Andererseits schätze ich die Gastfreundschaft der Aramäer und Araber sehr und versuche auch nach fünfzig Jahren so zu handeln, als wäre ich in Damaskus. Was den Deutschen schwer fällt ist die Gelassenheit und was Syrien und allen arabischen Ländern fehlt ist Freiheit und Demokratie. Dafür kämpfe ich, solange ich lebe.

AJM: Zuletzt noch folgende Frage: Welchen Traum hatten Sie als Kind und hat sich dieser erfüllt?

Rafik Schami: Ich träumte, ich würde ein Erzähler und deshalb bin ich glücklich, weil ich in meinem Traum lebe.

AJM: Vielen Dank, dass Sie sich bereit erklärt haben, unsere Interviewfragen zu beantworten.

Rafik Schami: Ich danke Ihnen für diese sensiblen und klugen Fragen.

„Gäbe es den Schriftsteller Rafik Schami nicht, man müsste ihn erfinden“

Sabine Berking, FAZ

Interview geführt durch Babila Malki.